Mittwoch, 27. Mai 2015

Luigi Carlotti, Kapitel 3 (Auszug)


Der Tag an dem wir Weihnachten zu früh feierten

Es war wieder einer dieser Tage an denen meine Eltern den Großteil des Tages nicht mit uns verbrachten. Ich weiß bis heute nicht, was passiert, wenn sie durch die verbotene Tür gehen. Verboten ist die Tür deshalb, weil mein Bruder Lewis und ich nur in Begleitung einer unserer Elternteile durch sie hindurchtreten dürfen. Wenn sie selbst durch diese geheimnisvolle Türe verschwinden, achten sie stets darauf, dass keiner von uns beiden auch nur die Nase über die Türschwelle streckt. Lewis ist immer ein bisschen neugieriger als ich und versucht häufiger mal zwischen den Beinen von Mama hindurch zu huschen. Ich bin mir nicht sicher, ob das besonders klug ist. Was passiert mit ihm, wenn Mama nicht bemerkt, dass er durch die Tür an ihr vorbei gekommen ist? Wo ist er dann? Was erwartet ihn? Wenn ich Lewis auf die Gefahren aufmerksam mache, sagt er immer ich sei ein Spielverderber und Angsthase. Er meint dann immer: „““Carlos, wir sind doch schon mit Mama und Papa durch diese Tür gegangen. Und nie ist etwas passiert.“ Lewis vergisst dann immer, dass wir in unserer tollen Transportbox sind, wenn wir unser Zuhause verlassen und die Tür hinter uns lassen. Dann kann uns nichts passieren. Und viel sehen können wir dann auch meist nicht. Nur viele Treppen und überall weiße Wände. Und das schlimmste ist, was uns danach erwartet. Aber davon erzähle ich ein anderes mal. Wo war ich? Genau, unsere Eltern waren also nicht zuhause. Das war toll. Wenn Papa nicht da ist, sagt Mama immer wir haben sturmfrei. Papa ist nämlich manchmal ein paar Tage weg. Dann sind wir mit Mama alleine zuhause. Sie sagt dann immer Papa sei auf „Geschäftsreise“. Ich weiß nicht genau was das heißt. Ein paar Tage vorher beginnt er damit seine Kleidung in eine große Kiste mit Henkel zu packen, er nennt das seinen Koffer. Dann verschwindet er morgens durch die verbotene Tür und kommt erst einige Tage später wieder nach Hause. Noch ein Grund für mich, dieser Türe nicht zu nahe zu kommen. Es gibt keinen Grund dieses zu Hause zu verlassen. Hier habe ich alles, was ich brauche. Nun denn, wenn Papa und Mama nicht da waren, hatten Lewis und ich also sturmfrei. Das war toll. Keine Mama, die staubsaugt und richtig viel Zeit um sich in Ruhe gegenseitig durch die Wohnung zu jagen oder um einfach mal einen neuen Rekord im Langschlafen aufzustellen. Aber für heute hatten Lewis und ich einen anderen Plan. Seit Wochen schon lag uns dieser Duft in der Nase. Ein Duft, den wir kannten, ein Duft, den wir liebten, ein Duft, der uns fast den Verstand raubte. Ein Duft, den wir bislang nicht orten konnten. Doch die Quälerei sollte heute ein Ende finden. Wir würden die Quelle ausfindig machen und uns solange diesem Duft hingeben, bis wir vor Erschöpfung einschlafen würden. Aber als erstes mussten wir den Ursprung des Dufts ausfindig machen. Das war gar nicht so einfach bei all den vielen verschiedenen Gerüchen in unserem Zuhause. Wir starteten die Suche im größten Zimmer der Wohnung. Unsere Eltern nennen es Wohnzimmer, Küche, Flur und Esszimmer zugleich. Warum man so viele Namen für ein Zimmer braucht ist mir ein Rätsel. Menschen sind ja so kompliziert. Warum wir dort starteten? Das erkläre ich euch gerne. Hier wollten wir die Fährte aufnehmen. Denn hier war uns dieser Geschmack zum ersten Mal in die Nase gekrochen. Dies war der Ort an dem wir zum ersten Mal mit diesem Duft in die Berührung kamen, an dem wir zum ersten Mal unserer Sucht frönten ohne überhaupt zu wissen was eine Sucht ist und wie dieser Geruch unsere Zukunft ändern würde.  Hier war der perfekte Ort um die Fährte aufzunehmen. Wir hielten unsere Nase hoch in die Luft, stellten unsere Ohren leicht nach hinten, öffneten den Mund ein wenig und rochen was das Zeug hielt. Zuerst trat uns ein Geruch von Pizza entgegen. Das ist das Zeug, das Mama so gerne isst, wenn Papa auf Geschäftsreise ist. Lewis bettelt dann immer bei Mama, bekommt aber nie was ab. Aber einmal hat er es geschafft seine Pfote auf diese Pizza zu stellen. Das fand Mama nicht so toll, glaube ich. Auf jeden Fall hat sie wie wild mit den Armen gefuchtelt und auch ein bisschen geschimpft. Lewis sprang dann gleich weg von der Pizza, sagte mir aber später, dass er niemals aufgeben werde. Dieser Geruch hatte es ihm wohl angetan. Aber nicht so sehr wie der Geruch, den wir gerade verfolgten. Denn Lewis überlegte zwar kurz und schaute sehnsüchtig in Richtung Küche, folgte mir dann aber weiter. Ich war inzwischen den Flur entlang gelaufen und mir stieg bereits ein anderer Geruch in die Nase. Diesmal wurde ich auf die Probe gestellt. Wir kamen am Bad vorbei und dort stand der Wäscheständer mit frisch gewaschener Menschenkleidung. Ich liebe diesen Geruch. Er riecht nach Frühling: Nach Blumen, nach Wiese, nach Sonne und immer ein wenig nach Mama und Papa. Doch ich nahm mir ein Beispiel an Lewis, blieb standhaft und setzte die Suche nach dem eigentlichen Ziel fort. Wir gingen weiter den Flur entlang und waren nun kurz vor unserem Zimmer angekommen. Ihr wundert euch darüber, dass wir ein eigenes Zimmer haben? Na, immerhin steht hier unsere Toilette. Ein bisschen Privatsphäre muss ja wohl sein. 


Das Ende wird (noch nicht?!) verraten...

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